ANTHROPOSOPHISCHE LEITSÄTZE Anmerkung 32 DAS SCHEINBARE ERLÖSCHEN DER GEIST-ERKENNTNIS IN DER NEUZEIT DER ERKENNTNISWEG DER ANTHROPOSOPHIE DAS MICHAEL-MYSTERIUM „DAS SCHEINBARE ERLÖSCHEN DER GEIST-ERKENNTNIS IN DER NEUZEIT Wer die Anthroposophie in ihrem Verhältnis zur Entwickelung der Bewusstseinsseele richtig beurteilen will, der muss immer von neuem den Blick auf diejenige Geistesverfassung der Kulturmenschheit lenken, die mit dem Aufblühen der Naturwissenschaften beginnt und die im neunzehnten Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. Man stelle sich doch den Charakter dieses Zeitalters vor das Seelenauge hin und vergleiche ihn mit dem früherer Zeitalter. In aller Zeit der bewussten Menschheitsentwickelung war die Erkenntnis als das angesehen, was den Menschen mit der Geistwelt zusammenbringt. Was man im Verhältnis zum Geiste war, das schrieb man der Erkenntnis zu. In Kunst, in Religion lebte die Erkenntnis. Das wurde anders, als die Morgendämmerung des Bewusstseinszeitalters begann. Da fing die Erkenntnis an, sich um einen großen Teil des menschlichen Seelenlebens nicht mehr zu kümmern. Sie wollte erforschen, was der Mensch als Verhältnis zum Dasein entwickelt, wenn er seine Sinne und seinen beurteilenden Verstand nach der «Natur» richtet. Aber sie wollte sich nicht mehr mit dem beschäftigen, was der Mensch als Verhältnis zur Geist-Welt entwickelt, wenn er sein inneres Wahrnehmungsvermögen so gebraucht wie die Sinne. So entstand die Notwendigkeit, das geistige Leben des Menschen nicht an das Erkennen der Gegenwart anzuschließen, sondern an Erkenntnisse der Vergangenheit, an Traditionen. Entzwei gespalten wurde das menschliche Seelenleben. Vor dem Menschen stand die Natur-Erkenntnis, immer weiter strebend auf der einen Seite, in lebendiger Gegenwart sich entfaltend. Auf der andern Seite war das Erleben eines Verhältnisses zur geistigen Welt, für das die entsprechende Erkenntnis in älteren Zeiten erflossen war. Für dieses Erleben verlor sich allmählich alles Verständnis, wie die entsprechende Erkenntnis in der Vorzeit zustande gekommen ist. Man hatte die Überlieferung, aber nicht mehr den Weg, auf dem die überlieferten Wahrheiten erkannt worden sind. Man konnte nur an die Überlieferung glauben. Der Mensch, der sich in voller Besonnenheit etwa um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die geistige Situation überlegte, hätte sich sagen müssen: Die Menschheit ist dazu gekommen, sich nur noch für fähig zu halten, eine Erkenntnis zu entfalten, die mit dem Geiste nichts zu tun hat. Was über den Geist gewusst werden kann, hat eine frühere Menschheit erforschen können; die Fähigkeit zu dieser Erforschung ist aber der menschlichen Seele verlorengegangen. In der ganzen Tragweite stellte man sich nicht vor das Seelenauge, was da eigentlich vorlag. - Man beschränkte sich darauf, zu sagen: Erkenntnis reicht eben nicht bis zur geistigen Welt; diese kann nur Gegenstand des Glaubens sein. Man blicke, um etwas Licht für diese Tatsache zu bekommen, in die Zeiten, in denen die griechische Weisheit vor dem christlich gewordenen Römertum zurückweichen musste. Als die letzten griechischen Philosophenschulen durch den Kaiser [Justinian] geschlossen wurden, wanderten auch die letzten Bewahrer alten Wissens aus dem Gebiete fort, auf dem nun das europäische Geisteswesen sich entwickelte. Sie fanden Anschluss bei der Akademie von Gondischapur in Asien. Sie war eine der Stätten, wo im Osten durch die Taten Alexanders die Überlieferung von dem alten Wissen sich erhalten hatte. In der Form, die Aristoteles diesem alten Wissen hat geben können, lebte es da. Aber es wurde ergriffen von derjenigen orientalischen Strömung, die man als Arabismus bezeichnen kann. Der Arabismus ist nach der einen Seite seines Wesens eine verfrühte Entfaltung der Bewusstseinsseele. Er bot durch das in der Richtung der Bewusstseinsseele zu früh wirkende Seelenleben die Möglichkeit, dass sich in ihm von Asien aus über Afrika, Südeuropa, Westeuropa eine geistige Welle ergoss, die gewisse europäische Menschen mit einem Intellektualismus erfüllte, der erst später kommen durfte; Süd und Westeuropa bekamen im siebenten, achten Jahrhundert geistige Impulse, die erst im Zeitalter der Bewusstseinsseele hätten kommen dürfen. Diese geistige Welle konnte das Intellektuelle im Menschen wecken, nicht aber das tiefere Erleben, durch das die Seele in die Geist-Welt taucht. Wenn nun der Mensch im fünfzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert sein Erkenntnisvermögen in Tätigkeit brachte, so konnte er nur bis zu einer Seelentiefe untertauchen, in der er noch nicht auf die geistige Welt stieß. Der in das europäische Geistesleben einziehende Arabismus hielt die erkennenden Seelen von der Geist-Welt zurück. Er brachte - verfrüht - den Intellekt zur Wirksamkeit, der nur die äußere Natur fassen konnte. Und dieser Arabismus erwies sich als sehr mächtig. Wer von ihm erfasst wurde, in dem begann ein innerer - zum großen Teile ganz unbewusster - Hochmut die Seele zu ergreifen. Er empfand die Macht des Intellektualismus; aber er empfand nicht das Unvermögen des bloßen Intellektes, in die Wirklichkeit einzudringen. So überließ er sich denn der äußeren sinnenfälligen Wirklichkeit, die sich durch sich selbst vor den Menschen hinstellte; aber er kam gar nicht darauf, an die geistige Wirklichkeit heranzutreten. Dieser Lage sah sich das mittelalterliche Geistesleben gegenüber. Es hatte die gewaltigen Überlieferungen von der Geist-Welt; aber sein Seelenleben war durch den - man möchte sagen: im geheimen - wirkenden Arabismus intellektualistisch so imprägniert, dass sich der Erkenntnis kein Zugang bot zu den Quellen, aus denen der Inhalt dieser Überlieferung doch zuletzt stammte. Es kämpfte nun vom frühen Mittelalter an das, was instinktiv in den Menschen als geistiger Zusammenhang gefühlt wurde, mit der Gestalt, die das Denken durch den Arabismus angenommen hatte. Man fühlte die Ideenwelt in sich. Man erlebte sie als etwas Reales. Aber man fand in der Seele nicht die Kraft, in den Ideen den Geist zu erleben. So entstand der Realismus, der die Realität in den Ideen empfand, aber diese Realität nicht finden konnte. Der Realismus hörte in der Ideenwelt das Sprechen des Weltenwortes, er war aber nicht fähig, die Sprache zu verstehen. Der Nominalismus, der sich ihm entgegenstellte, leugnete, weil das Sprechen nicht verstanden werden konnte, dass es überhaupt vorhanden sei. Für ihn war die Ideenwelt nur eine Summe von Formeln in der menschlichen Seele ohne eine Wurzelung in einer geistigen Realität. Was in diesen Strömungen wogte, es lebte fort bis in das neunzehnte Jahrhundert. Der Nominalismus wurde die Denkungsart der Natur-Erkenntnis. Sie baute ein großartiges System von Anschauungen der sinnenfälligen Welt auf, aber sie vernichtete die Einsicht in das Wesen der Ideenwelt. - Der Realismus lebte ein totes Dasein. Er wusste von der Realität der Ideenwelt; aber er konnte im lebendigen Erkennen nicht zu ihr gelangen. Man wird zu ihr gelangen, wenn Anthroposophie den Weg finden wird von den Ideen zu dem Geist-Erleben in den Ideen. In dem wahrhaft fortgebildeten Realismus muss dem naturwissenschaftlichen Nominalismus ein Erkenntnisweg zur Seite treten, der zeigt, dass die Erkenntnis des Geistigen in der Menschheit nicht erloschen ist, sondern in einem neuen Aufstieg aus neu eröffneten menschlichen Seelenquellen in die menschliche Entwickelung wieder eintreten kann. Goetheanum, März 1925.“, GA26, Rudolf Steiner, Anthroposophische Leitsätze "Willst du die Welt erkennen Such' in des eignen Herzens Tiefen; Willst du das eigne Wesen schauen Wandle durch der Welten Rätsel!“ GA40, Januar 1924 Rudolf Steiner
ANTHROPOSOPHISCHE LEITSÄTZE Anmerkung 32 DAS SCHEINBARE ERLÖSCHEN DER GEIST-ERKENNTNIS IN DER NEUZEIT DER ERKENNTNISWEG DER ANTHROPOSOPHIE DAS MICHAEL-MYSTERIUM Sie können dieses Video auch gerne auf der Homepage: http://www.imgaja.org/v/Leitsaetze-Anmerkung32.html ansehen. Mobil: http://www.imgaja.org/m/v/Leitsaetze-Anmerkung32.html Dort können Sie auch den Text als PDF herunterladen. Sowie die Audio oder Video Datei herunterladen. „DAS SCHEINBARE ERLÖSCHEN DER GEIST-ERKENNTNIS IN DER NEUZEIT Wer die Anthroposophie in ihrem Verhältnis zur Entwickelung der Bewusstseinsseele richtig beurteilen will, der muss immer von neuem den Blick auf diejenige Geistesverfassung der Kulturmenschheit lenken, die mit dem Aufblühen der Naturwissenschaften beginnt und die im neunzehnten Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. Man stelle sich doch den Charakter dieses Zeitalters vor das Seelenauge hin und vergleiche ihn mit dem früherer Zeitalter. In aller Zeit der bewussten Menschheitsentwickelung war die Erkenntnis als das angesehen, was den Menschen mit der Geistwelt zusammenbringt. Was man im Verhältnis zum Geiste war, das schrieb man der Erkenntnis zu. In Kunst, in Religion lebte die Erkenntnis. Das wurde anders, als die Morgendämmerung des Bewusstseinszeitalters begann. Da fing die Erkenntnis an, sich um einen großen Teil des menschlichen Seelenlebens nicht mehr zu kümmern. Sie wollte erforschen, was der Mensch als Verhältnis zum Dasein entwickelt, wenn er seine Sinne und seinen beurteilenden Verstand nach der «Natur» richtet. Aber sie wollte sich nicht mehr mit dem beschäftigen, was der Mensch als Verhältnis zur Geist-Welt entwickelt, wenn er sein inneres Wahrnehmungsvermögen so gebraucht wie die Sinne. So entstand die Notwendigkeit, das geistige Leben des Menschen nicht an das Erkennen der Gegenwart anzuschließen, sondern an Erkenntnisse der Vergangenheit, an Traditionen. Entzwei gespalten wurde das menschliche Seelenleben. Vor dem Menschen stand die Natur-Erkenntnis, immer weiter strebend auf der einen Seite, in lebendiger Gegenwart sich entfaltend. Auf der andern Seite war das Erleben eines Verhältnisses zur geistigen Welt, für das die entsprechende Erkenntnis in älteren Zeiten erflossen war. Für dieses Erleben verlor sich allmählich alles Verständnis, wie die entsprechende Erkenntnis in der Vorzeit zustande gekommen ist. Man hatte die Überlieferung, aber nicht mehr den Weg, auf dem die überlieferten Wahrheiten erkannt worden sind. Man konnte nur an die Überlieferung glauben. Der Mensch, der sich in voller Besonnenheit etwa um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die geistige Situation überlegte, hätte sich sagen müssen: Die Menschheit ist dazu gekommen, sich nur noch für fähig zu halten, eine Erkenntnis zu entfalten, die mit dem Geiste nichts zu tun hat. Was über den Geist gewusst werden kann, hat eine frühere Menschheit erforschen können; die Fähigkeit zu dieser Erforschung ist aber der menschlichen Seele verlorengegangen. In der ganzen Tragweite stellte man sich nicht vor das Seelenauge, was da eigentlich vorlag. - Man beschränkte sich darauf, zu sagen: Erkenntnis reicht eben nicht bis zur geistigen Welt; diese kann nur Gegenstand des Glaubens sein. Man blicke, um etwas Licht für diese Tatsache zu bekommen, in die Zeiten, in denen die griechische Weisheit vor dem christlich gewordenen Römertum zurückweichen musste. Als die letzten griechischen Philosophenschulen durch den Kaiser [Justinian] geschlossen wurden, wanderten auch die letzten Bewahrer alten Wissens aus dem Gebiete fort, auf dem nun das europäische Geisteswesen sich entwickelte. Sie fanden Anschluss bei der Akademie von Gondischapur in Asien. Sie war eine der Stätten, wo im Osten durch die Taten Alexanders die Überlieferung von dem alten Wissen sich erhalten hatte. In der Form, die Aristoteles diesem alten Wissen hat geben können, lebte es da. Aber es wurde ergriffen von derjenigen orientalischen Strömung, die man als Arabismus bezeichnen kann. Der Arabismus ist nach der einen Seite seines Wesens eine verfrühte Entfaltung der Bewusstseinsseele. Er bot durch das in der Richtung der Bewusstseinsseele zu früh wirkende Seelenleben die Möglichkeit, dass sich in ihm von Asien aus über Afrika, Südeuropa, Westeuropa eine geistige Welle ergoss, die gewisse europäische Menschen mit einem Intellektualismus erfüllte, der erst später kommen durfte; Süd und Westeuropa bekamen im siebenten, achten Jahrhundert geistige Impulse, die erst im Zeitalter der Bewusstseinsseele hätten kommen dürfen. Diese geistige Welle konnte das Intellektuelle im Menschen wecken, nicht aber das tiefere Erleben, durch das die Seele in die Geist-Welt taucht. Wenn nun der Mensch im fünfzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert sein Erkenntnisvermögen in Tätigkeit brachte, so konnte er nur bis zu einer Seelentiefe untertauchen, in der er noch nicht auf die geistige Welt stieß. Der in das europäische Geistesleben einziehende Arabismus hielt die erkennenden Seelen von der Geist-Welt zurück. Er brachte - verfrüht - den Intellekt zur Wirksamkeit, der nur die äußere Natur fassen konnte. Und dieser Arabismus erwies sich als sehr mächtig. Wer von ihm erfasst wurde, in dem begann ein innerer - zum großen Teile ganz unbewusster - Hochmut die Seele zu ergreifen. Er empfand die Macht des Intellektualismus; aber er empfand nicht das Unvermögen des bloßen Intellektes, in die Wirklichkeit einzudringen. So überließ er sich denn der äußeren sinnenfälligen Wirklichkeit, die sich durch sich selbst vor den Menschen hinstellte; aber er kam gar nicht darauf, an die geistige Wirklichkeit heranzutreten. Dieser Lage sah sich das mittelalterliche Geistesleben gegenüber. Es hatte die gewaltigen Überlieferungen von der Geist-Welt; aber sein Seelenleben war durch den - man möchte sagen: im geheimen - wirkenden Arabismus intellektualistisch so imprägniert, dass sich der Erkenntnis kein Zugang bot zu den Quellen, aus denen der Inhalt dieser Überlieferung doch zuletzt stammte. Es kämpfte nun vom frühen Mittelalter an das, was instinktiv in den Menschen als geistiger Zusammenhang gefühlt wurde, mit der Gestalt, die das Denken durch den Arabismus angenommen hatte. Man fühlte die Ideenwelt in sich. Man erlebte sie als etwas Reales. Aber man fand in der Seele nicht die Kraft, in den Ideen den Geist zu erleben. So entstand der Realismus, der die Realität in den Ideen empfand, aber diese Realität nicht finden konnte. Der Realismus hörte in der Ideenwelt das Sprechen des Weltenwortes, er war aber nicht fähig, die Sprache zu verstehen. Der Nominalismus, der sich ihm entgegenstellte, leugnete, weil das Sprechen nicht verstanden werden konnte, dass es überhaupt vorhanden sei. Für ihn war die Ideenwelt nur eine Summe von Formeln in der menschlichen Seele ohne eine Wurzelung in einer geistigen Realität. Was in diesen Strömungen wogte, es lebte fort bis in das neunzehnte Jahrhundert. Der Nominalismus wurde die Denkungsart der Natur-Erkenntnis. Sie baute ein großartiges System von Anschauungen der sinnenfälligen Welt auf, aber sie vernichtete die Einsicht in das Wesen der Ideenwelt. - Der Realismus lebte ein totes Dasein. Er wusste von der Realität der Ideenwelt; aber er konnte im lebendigen Erkennen nicht zu ihr gelangen. Man wird zu ihr gelangen, wenn Anthroposophie den Weg finden wird von den Ideen zu dem Geist-Erleben in den Ideen. In dem wahrhaft fortgebildeten Realismus muss dem naturwissenschaftlichen Nominalismus ein Erkenntnisweg zur Seite treten, der zeigt, dass die Erkenntnis des Geistigen in der Menschheit nicht erloschen ist, sondern in einem neuen Aufstieg aus neu eröffneten menschlichen Seelenquellen in die menschliche Entwickelung wieder eintreten kann. Goetheanum, März 1925.“, GA26, Rudolf Steiner, Anthroposophische Leitsätze "Willst du die Welt erkennen Such' in des eignen Herzens Tiefen; Willst du das eigne Wesen schauen Wandle durch der Welten Rätsel!“ GA40, Januar 1924 Rudolf Steiner Mit herzlichen Dank und Grüßen Gerhard Anger Wenn Sie meine Arbeit unterstützen wollen würde ich mich sehr freuen http://www.imgaja.org/Kontakt.html http://www.imgaja.org/m/Kontakt.html Vielen Dank Gerhard Anger
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